SPL: von der Leistungssportlerin zur Therapieweltmeisterin

Gehirnerschütterungen im Sport werden oft unterschätzt. Die Folgen einer nicht behandelten Gehirnerschütterung greifen dann meist weiter als nur «Kopfschmerzen» oder das Ende einer Sportlerkarriere. Die Geschichte einer jungen Sportlerin, die ihrer Gehirnerschütterung zu wenig Beachtung schenkte und nun schwerwiegende Folgen im Alltag erlebt. 

Die Gegenspielerin kommt angelaufen. Ein Schritt in ihre Richtung und dann – Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die Sophie Strupler in ihrem Leben nicht mehr so schnell loswurde. Schnell steht sie im Moment des Geschehens wieder auf den Beinen. Doch die Frage, welcher Tag damals ist, kann Strupler nicht mehr beantworten. In einem Handballspiel gegen den LK Zug verletzt sich Sophie Strupler letzten Oktober stark am Kopf. Sieben Monate später sitzt Strupler mit mir in einem Restaurant und spricht über ihre Verletzung. Eine Verletzung, die man auf den ersten Blick nicht sieht. Eine Verletzung aber, die das ganze Leben auf den Kopf stellen kann. Weihnachtsfeste und soziale Kontakte mussten mit genügend Ruhe- und Schlafpausen geplant werden, ans Arbeiten im Kindergarten war nicht mehr zu denken und das Morgenessen zu Hause schon ein Erfolg. Von der Leistungssportlerin zur Dauerpatientin – und dies wegen einer zu spät erkannten Gehirnerschütterung.

Wenn Gehirnerschütterungen zu spät erkannt werden

«Ich hörte einen lauten «tätsch» neben mir und sah, wie Sophie zu Boden ging», erzählt mir eine Mitspielerin von Strupler. Kopf an Kopf ist Strupler mit ihrer Gegenspielerin zusammengeprallt. Klar, an Körperkontakt ist man im Handball gewöhnt. Schmerzen gehören dazu. Auch Strupler ging «nur» von einem geprellten Auge aus. Erst nach dem Spiel, auf der Reise nach Hause, merkte sie, dass etwas nicht ganz stimmte. «Ich schaute im Car auf die Autobahn und erwartete, die Strasse mit den Autos zu sehen. Dieses Bild erschien aber erst Momente später bei mir im Kopf. Die Wahrnehmung der Umgebung war völlig verzögert. So etwas hatte ich noch nie erlebt!», erzählt mir Strupler. 

Wahrnehmungsstörungen, Verwirrtheit, Kopfschmerzen und Übelkeit gehören zu den typischen Symptomen einer Gehirnerschütterung. Vor allem unter extremer Müdigkeit litt Strupler in der ersten Woche nach dem Zusammenprall. Den Kopfschmerz schiebt sie auf ihr geprelltes Auge ab, geht die nächste Woche arbeiten und trainiert weiter. Sogar beim nächsten Spiel ist sie noch dabei. Steht dort aber völlig neben den Schuhen, kann sich nicht konzentrieren, trifft falsche Entscheidungen und macht Fehler, die ihr sonst nicht passieren würden. Auch am nächsten Montag geht Strupler trotz Kopfschmerzen zur Arbeit und am Abend ins Training. Sie hätte in dieser Woche physiotherapeutische Betreuung gebraucht. Dann reissen die Stricke. Strupler muss das Training abbrechen. Zu den Kopfschmerzen kam nun Schwindel dazu. «Stockbesoffen» fühlte sich Strupler, als sie den Weg allein nach Hause antrat.  Der Kreisverkehr, den sie mit dem Bus passierte, hörte in ihrem Kopf nicht mehr auf zu drehen. Es glich an ein Wunder, kam Strupler unversehrt zu Hause an. Sofort ging sie am nächsten Tag zum Arzt – der Verdacht auf eine Hirnblutung musste sofort geprüft werden. Es folgte eine 100%-Krankschreibung und ein sofortiges MRT. Der Kopfschmerz pulsierend und lähmend. Bei den kleinsten Anstrengungen spürte sie ihren Puls im Kopf. Eine Hirnblutung konnte dank des schnellen MRT’s ausgeschlossen werden. 5 Wochen Bettruhe folgten. Keine elektrischen Geräte, kein Lesen, so viel Schlaf und so wenig Licht wie möglich. Soziale Kontakte gab es keine mehr. Dann ein Fortschritt; zwei Stunden pro Tag arbeiten war für den November geplant. Schnell wird klar, dass auch das noch zu früh ist. Der Leistungssportgedanke, niemals aufzugeben und sich durch den Schmerz zu beissen, zog Strupler aber weiter. Mit Tabletten kämpfte sie sich durch die Tage. 

«Ich schaute im Car auf die Autobahn und erwartete, die Strasse mit den Autos zu sehen. Dieses Bild erschien aber erst Momente später bei mir im Kopf. Die Wahrnehmung der Umgebung war völlig verzögert. So etwas hatte ich noch nie erlebt!»

Der Weg zurück ins Leben

Physiotherapie, Osteopathie und Chinesische Medizin im Circles Health in Bern, brachten nur kleine Fortschritte. Das ewige Pulsieren im Kopf blieb. Im Concussion-Zentrum in Zürich, welches auf Gehirnerschütterungen ausgerichtet ist, wurden Tests gemacht. Gleichgewicht, Reaktionsfähigkeit und die visuelle Wahrnehmung waren bei Strupler ungenügend. Erst als Strupler im Februar den Arzt wechselte und noch einmal 100% krankgeschrieben wurde, kam Besserung. Im Mai hat Strupler nach sieben Monaten zum ersten Mal keine Kopfschmerzen mehr, kann 3,5 Stunden pro Tag arbeiten und sogar leichtes Krafttraining machen. Im Herbst will Strupler dann wieder auf dem Handballfeld stehen. 

Wichtig ist es nun aber, Schritt für Schritt zu nehmen und nichts zu übertreiben. Dafür wurde von der Physiotherapeutin ein Concussionplan entwickelt. «Innerhalb von neun Stufen wird die Patientin zum angestrebten Niveau zurückgeführt. Wichtig ist es hierbei als Physiotherapeut oder Physiotherapeutin, ein Feingefühl für die Patientin oder den Patienten zu entwickeln. Wird in der Anfangsphase etwas falsch gemacht, rennt man diesem Fehltritt die ganze Reha lang hinterher» erklärt die Physiotherapeutin von Strupler. Eine Gehirnerschütterung ist aus physiotherapeutischer Sicht eine schwierige Behandlung. Die Individualität einer Gehirnerschütterung reicht von einer Woche Ausfall bis zu mehreren Monaten oder Jahren. Wichtig sei es deshalb, die Patienten so gut wie es geht anzuleiten und zu motivieren – für viele sei es eine extreme Veränderung ihres gewohnten Lebens. 

Nicht nur aus therapeutischer Sicht ist eine Gehirnerschütterung schwierig zu akzeptieren. Sie ist wie ein Damoklesschwert, das über einem hängt und sobald man es vergisst, sich sofort wieder zurückmeldet. Denn Dinge, die an einem Tag funktionierten, gingen am nächsten Tag nicht mehr. Eine Verletzung, die man sieht, ist einfacher zu erklären als eine, die niemand sofort wahrnimmt. Vor allem das sportliche Umfeld hatte Mühe, richtig mit der Situation von Strupler umzugehen. Welche Fragen darf ich ihr stellen? Nervt sie die Frage, wie es ihr geht? Darf sie mit mir in ein Restaurant essen gehen oder ist das schon zu viel? Statt einmal zu viel zu fragen, wurde lieber einmal zu wenig nachgefragt. Die Verletzung hatte auch Konsequenzen für das berufliche Umfeld. Zum Glück zeigte die Arbeitgeberin viel Verständnis für die Situation. Ihren Abschluss konnte Strupler verschieben. Das Studium starten kann sie aber nicht wie geplant im Herbst, sondern erst ein Jahr später. Von einem Tag auf den anderen nahm die Gehirnerschütterung in allen Lebensbereichen von Strupler Einfluss. Sie erzählt: «Ich fühlte mich einfach nur leer. Mein Leben bestand für einige Monate nur aus Schlaf und Kopfschmerz. Diese Zeit lehrt dich so viel Geduld für dich selbst aufzubringen- bis anhin wirklich keine meiner Stärken. Mein ganzes sportliches Umfeld und der normale Alltag waren weg. Diese Einsamkeit traf mich aus dem Nichts. Dieser Dauerzustand macht psychisch extrem viel mit dir». 

«Für meine Unwissenheit am Anfang der Verletzung zahle ich einen sehr hohen Preis. Das wird mir in Zukunft eine Lehre sein.»

Und trotz dieser Geschichte, diesen strengen letzten Monaten sitzt vor mir eine junge lachende Frau, die voller Zuversicht in die Zukunft schaut. Verletzungen haben auch immer etwas Gutes an sich. «Ich hatte Zeit für andere Dinge, die in der normalen Saison und dem 90% Arbeitspensum nicht Platz gehabt hätten. Das habe ich genossen.» In ihrer schwierigen Zeit merkte sie, wie stark ihr Herz für den Handball schlägt. «Die Vorfreude auf die neue Saison war noch nie so gross wie jetzt!» Ausserdem soll ihre Geschichte anderen Sportlerinnen und Sportlern helfen, soll Trainer und Trainerinnen auf Gehirnerschütterungen sensibilisieren. Manchmal braucht es eine aussenstehende Person, die die Reissleine zieht und ein Machtwort ausspricht. Eine Woche Pause hätte vielleicht gereicht, und Strupler würde heute nicht immer noch für einen normalen Alltag kämpfen. 

Text: Lea Siegenthaler

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